Gibt es ein umfassenderes, in der Menschheitsgeschichte zentraleres Thema als die Liebe? Die Frage bleibt rhetorisch – nicht einmal ihr ebenso fataler Gegenpol Thanatos kann mithalten. Seit es künstlerische Zeugnisse gibt, stellen alle Kulturen das unstreitige Herzstück menschlichen Empfindens in den Mittelpunkt des schöpferischen Ausdrucks. Gleichzeitig ist alles, was sich um die Liebe als Emotion rankt, Sexualität und das gesellschaftliche Verhältnis zwischen Mann und Frau, bezeichnend für die jeweilige Kulturepoche. Die Ausstellung „Amour“ im Louvre- Lens muss ihren ambitionierten Gegenstand notwendig eingrenzen. Sie konzentriert sich, nach einem Vorspann zum Altertum, auf das christliche Abendland und führt in sieben Kapiteln bis ins zwanzigste Jahrhundert. Der Untertitel „Eine Geschichte der Formen der Liebe“ möchte auf die ausdrücklich subjektive Perspektive der Kuratoren Zeew Gourarier und Dominique de Font-Réaulx verweisen, die aus dem extrem reichen Schatz der ikonografischen Möglichkeiten etwa 250 Werke ausgewählt haben – andere Kuratoren hätten andere Werke ausgewählt. In jedem Fall ist die gezeigte Fülle der Liebes-„Positionen“ faszinierend, denn der Besucher läuft zugleich durch die Kunstgeschichte wie durch eine Gesellschafts- und Sittengeschichte.
Youyou und Tiy (© Musée du Louvre, dist. RMN-GP / Christian Décamps)
Schon der erste Saal bietet einen beeindruckenden Einstieg in die Materie: die ewige Liebe in Stein gemeißelter Paare aus dem Altertum. Youyou, ein ägyptischer Schatzmeister, und seine Frau Tiy ließen sich vor mehr als dreitausend Jahren Arm in Arm sitzend für eine Grabstele darstellen. Sobald jedoch die griechische Antike, durch eine das Patriarchat befestigende Mythenbildung die Pfeile ihres Eros abschießt, scheinen die Liebesbeziehungen aus dem Gleichgewicht zu geraten. Der Götterwelt steht ein donnernder Zeus vor und Aphrodite entsteigt schaumgeboren dem Meer und nicht etwa einem Mutterleib. Die erste Frau, die Zeus kreiert, wird von Hephaistos aus Lehm geknetet: Pandora, die dem bekannten Mythos nach die unheilvolle Büchse öffnet und damit für alles Leid in der Welt verantwortlich ist. Mit Eva, aus Adams Rippe geschnitten, tritt die christliche Variante des Sündenfalls und der Frau als Versucherin auf die Bühne der Menschheitsgeschichte (hier in einer Version von Guiseppe Porta), gefolgt vom jahrhundertelangen Cortège der Misogynie im Abendland. Andere verräterische Verführerinnen wie Delila in der Bibelgeschichte von Samson und Delila – gezeigt wird das Gemälde von Il Guerchino – vervollständigen das erotisiert schauerliche Frauenbild, das von Warnschriften zum Thema „Die unvollständige Frau“ oder „Die Bosheit der Frau“ (achtzehntes Jahrhundert) auch intellektuell bearbeitet wird.
Voltaire schrieb, dass die Liebe der Stoff der Natur sei, den die Vorstellungskraft mit Stickerei verziere. Die reine Liebe wird von Mariengestalten verkörpert und Gottesliebe durch Ekstase verklärt, bei einer Skulptur von Gian Lorenzo Bernini nimmt diese Form der Entzückung orgasmische Züge an. Hans Memlings „Allegorie der Keuschheit“ zeigt hingegen eine löwenbewachte, felsige Trutzburg, in der eine höfische Dame wie in einem steinernen Korsett die Einbildungskraft bezwingt. In der höfischen Minne erhält die Frau bis zu einem gewissen Grad Selbstbestimmung zurück und steht in Tapisserien trotz eines kodierten Liebeswerbens mit dem Partner auf gleicher Ebene. Eine beeindruckende kleine Glasmalerei von etwa 1450 zeigt ein höfisch gekleidetes Paar beim Schachspiel. Der Mann nimmt gerade die Dame vom Spielbrett, die Frau hebt überrascht die Hand: Symbolisch wird auf dem Spielbrett das Herz der Dame erobert.
Schachspieler (© RMN-GP musée de Cluny – Jean-Gilles Berizzi)
Dass sämtliche Formen der Liebe im griechisch-christlichen Abendland sowohl in ihrer gesellschaftlichen Dimension als auch in der künstlerischen Darstellung vom männlichen Geschlecht gestaltet wurden, wird in dieser Ausstellung wirklich bewusst. Als sei es die Stecknadel im Heuhaufen, so sehr überrascht es, plötzlich die imaginäre Landkarte des Landes „Zärtlich“ zu studieren, die dem Roman „Clélie“ von Madeleine de Scudéry (1654) beiliegt, denn etwa 98 Prozent der ausgestellten Werke stammen von Männerhand – was kaum den Kuratoren anzulasten ist, weil es bis zum zwanzigsten Jahrhundert einer allgemeinen Ratio entspricht. Die Karte verzeichnet, zwischen dem „Gefährlichen Meer“ und dem „See der Gleichgültigkeit“, sämtliche Gemarkungen der Liebesgefühle.
« Le verrou » de Jean-Honoré Fragonard (photo © RMN-GP (musée du Louvre) / Stéphane Maréchalle)
Im achtzehnten Jahrhundert mit seinen Zeiten der Libertinage bekommt die Erotik freies Spiel und die Frau wird als lustfreudige Partnerin dargestellt. In den Gemälden werden Röcke gehoben und Betten zerwühlt, pornografische Drucke finden Anklang. Ein Hauptwerk dieser Sektion ist das spannungsgeladene, zweideutige Gemälde „Le verrou“ von Jean-Honoré Fragonard. Es ist unmöglich zu entscheiden, ob der junge Mann seine Schöne mit deren Einverständnis an sich reißt oder ihr eine Vergewaltigung bevorsteht. Die Ausschweifungen des moralisch gelassenen achtzehnten Jahrhunderts führen mit dem anbrechenden neunzehnten zur Entdeckung einer neuen Empfindsamkeit und dem romantischen ineinander Aufgehen. Die Sehnsucht nach der Liebes-Ehe kommt auf und Jungfräulichkeit wird als Tugend wiederentdeckt. Auguste Rodin skulptiert Dantes tragisches Liebespaar Paolo und Francesca, Joseph Wright of Derby malt den Tod von Romeo und Julia, Camille Claudel schafft mit „La Valse“ ein innig tanzendes Paar.
Der Parcours endet (fast) mit einer üppigen „Venus“ von Niki de Saint Phalle als Ausblick auf eine mögliche „Freiheit“ der Liebesbeziehungen nach Achtundsechzig. Hätte die Ausstellung vergleichbar begonnen, etwa mit der Statuette einer vorgriechischen, vor-patriarchalischen Großen Muttergottheit aus dem Mittelmeerraum oder Vorderen Orient, wäre ein Bogen geschlagen worden. Die lange Geschichte der abendländischen Unterwerfung der Frau zur Sicherung einer patriarchalisch geregelten Nach- und Erbfolge wäre in eine anregende Klammer gesetzt worden. Eine verpasste Chance der Bewusstseinsgestaltung.
Louvre-Lens in Lens, bis zum 21. Januar 2019, Katalog auf Französisch 39 Euro